| Veranstaltung: | Vollversammlung LJR NRW 2025 |
|---|---|
| Status: | Beschluss |
| Beschlossen am: | 22.11.2025 |
| Antragshistorie: | Version 4 |
Kinderarmut in NRW nachhaltig bekämpfen!
Untertitel
Gemeinsam das Beste für alle Kinder und Jugendlichen in NRW erreichen.
Beschlusstext
Die Vollversammlung möge beschliessen:
Auch NRW ist ein alterndes Land. Kinder sind zunehmend eine Minderheit und die
alternde Gesellschaft ist weder kindgerecht noch gerecht zu Kindern und
Jugendlichen. Durch den sinkenden Anteil junger Menschen an der Gesellschaft
erhöht sich die zur Versorgung der alten Generation zu schulternde Last.
Gleichzeitig sind junge Menschen zu einem höheren Grad von Armut betroffen: So
sind in NRW 15,9 % der
U18-Jährigen im Bezug SGB II-Leistungen, während es im Durchschnitt NRWs 10,8 %
waren (jeweils im Mai 2025). In Armut aufzuwachsen ist für Kinder nicht nur in
der
Kindheit selbst schädlich. Es zerstört auch Zukunftsperspektiven:
Armutsbetroffene Kinder haben
schlechtere Bildungs- und Qualifizierungschancen. Wer heute ein
armutsbetroffenes Kind ist, wird eher ein armutsbetroffener Erwachsener und eher
ein*e armutsbetroffene*r Rentner*in.
Im Sommer 2025 antworteten 72 % der Befragten in einer Studie, dass der
Bürgergeld-Regelsatz von 563 € nicht ausreiche, um ein würdevolles Leben zu
führen.[1] Noch alarmierender: Nur etwa die Hälfte gibt an, dass im Haushalt
alle satt werden. Eltern verzichten oft zu Gunsten der Kinder auf Essen (54 %).
Zusätzlich berichten die Befragte von Alltagserfahrungen wie: Verzicht,
Unsicherheit, Ausgrenzung, große Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche. Viele
Befragte leben mit Scham- oder Angstgefühlen. 42 % schämen sich, Bürgergeld zu
beziehen. 72 % fürchten, dass die Politik weitere Verschärfungen beschließt.
Armut hat auch einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheit. So führen die
damit verbundenen existenziellen Ängste, die schlechteren Lebensbedingungen und
der gleichzeitig erschwerte und verminderte Zugang zu Leistungen des
Gesundheitssystems zu geringeren Lebenserwartung und erhöhten Betroffenheit von
psychischen und körperlichen Krankheiten.
NRW ist ein Bundesland mit hoher Bevölkerungszahl, großer Wirtschaftsregion,
aber auch starken sozialen Disparitäten – etwa zwischen städtischen Zentren,
peripheren Regionen, reichen und armen Stadtteilen. Mit 15,9 Prozent aller
Kinder im Bürgergeldbezug stellt NRW nach den Stadtstaaten und dem Saarland den
Spitzenreiter unter den Flächenbundesländern.[2]
Für viele Familien in NRW bedeutet Bürgergeld keine Sicherheit, sondern einen
Mangel, der sich auch auf Grundbedürfnisse wie gute Ernährung, Gesundheit,
sichere Wohnung, Teilhabe an Freizeitaktivitäten, Kultur und Bildung auswirkt.
Im Jahr 2024 waren in NRW 9,7 % der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren
„erheblich materiell und sozial depriviert“. Ältere Menschen ab 65 Jahren waren
deutlich weniger betroffen: nur etwa 5,0 %.[3]
In NRW sind die Werte noch höher: Hier ist jedes vierte Kind von Armut
betroffen; laut dem aktuellen Teilhabeatlas der Deutschen Kinder- und
Jugendstiftung sind es im Ruhrgebiert sogar 30 % — bis hin zu Spitzenwerten wie
in Gelsenkirchen mit 37 %.
Laut dem dt. Kinderhilfswerk ist jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut
betroffen – dieser hohe Wert konnte seit fast zwei Jahrzehnten nicht abgesenkt
werden. Neben Arbeitslosigkeit der Eltern gilt als ein steigender Faktor für
Kinderarmut die wachsende Zahl an Eltern, deren Einkommen trotz Vollzeitarbeit
nur knapp über dem Sozialhilfesatz und damit an der Armutsgrenze liegt. Der Lohn
vieler Menschen reicht nicht mehr aus, um ihre Kinder angemessen versorgen zu
können, so dass sie ‚aufstocken‘ müssen. Besonders Alleinerziehende und
kinderreiche Familie sind hiervon betroffen. Wenn die Lebenshaltungskosten durch
die Inflation weiter steigen, wächst auch der Druck auf die Familien und
belastet zusätzlich.
Damit Kinderarmut in NRW nachhaltig bekämpft wird, fordert der Landesjugendring
NRW:
1. Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt politischen Handelns stellen. Dazu
gehören:
- Umsetzung, bzw. erkennbare Fortführung der im Pakt gegen Kinderarmut NRW
in 2023 und im Landesprogramm „kinderstark – NRW schafft Chancen“[4]
genannten Maßnahmen insbesondere zur Armutsprävention.
- Investitionen in die Zukunft von Kindern und Jugendlichen, insbesondere in
ihre Bildung und ihre Gesundheit, sind Investitionen in den Erhalt
demokratischer Werte, steuern weiterem Fachkräftemangel entgegen und
vermitteln Zuversicht statt Resignation.
- Erweiterung der Aufgaben der/des Kinderschutzbeauftragten in NRW auf den
Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Benachteiligungen aufgrund
steigender (Kinder-)Armut in NRW.
- Umsetzung der in der EU Kindergarantie seit 2021 geforderten zentralen
Maßnahmen in NRW, insbesondere bezogen auf Bildungsangebote, einer
gesunden Mahlzeit pro Tag und angemessenem Wohnraum.[5]
- Einsatz der NRW Regierung auf Bundesebene für eine Reform der
Erbschaftssteuer. Die Mehreinnahmen dieser Landessteuer sollten in die
Zukunft der jungen Generation und den Ausbau der Infrastruktur für Bildung
und Gesundheit investiert werden. Darüber hinaus wird es notwendig sein,
mithilfe von verschiedenen Stellschrauben den zu verteilenden Topf zu
vergrößern. Dies kann mit Hilfe von Landessteuern (z.B der
Erbschaftssteuer) geschehen.Im Land NRW ist es dadurch möglich mit eigenständigen Mittel den Kampf
gegen die Kinderarmut anzugehen.
2. Armutsstigmatisierung beenden und strukturelle Ursachen anerkennen
- Unterlassung stigmatisierender Äußerungen in politischen Debatten, denn
Bürgergeld-Empfänger*innen und Familien in materieller Not sind keine
„Schmarotzer“ oder „Arbeitsverweigerer“ und haben ein Recht auf
armutssensible Sprache.
- Anerkennung struktureller Ursachen von Armut in Politik und Gesellschaft.
Denn die Regelsätze im Bürgergeld für Wohnraum, Teilhabe und insgesamt für
ein gutes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen sind zu gering.[6]
- Beteiligung armutsbetroffener Kinder, Jugendlicher und Familien an
Diskussionen und Lösungsvorschlägen. Ihre Erfahrungen, Sorgen, Ängste und
Vorschläge müssen gehört werden. Kein „über sie ohne sie“!
3. Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe ermöglichen
- Ausbau und auskömmliche Finanzierung von kostenfreier bzw. bezahlbarer
Kinderbetreuung, außerschulischen Bildungsangebote und Ausbau von
Ganztagsschulen.
- Erfüllung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung mit auskömmlicher
Finanzierung, damit gut ausgebildete Fachkräfte Grundschulkinder fördern
und nicht nur betreuen.
- Erhöhung der Zahl der Familiengrundschulzentren (derzeit sind diese nur in
ca. jeder 10. NRW Kommune zu finden). Familiengrundschulzentren sind schon
jetzt wirksame Angebote gegen Isolation und Überforderung von Kindern und
deren Sorgeberechtigte und können auch der überproportionalen
Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Einwanderungsgeschichte[7]
entgegenwirken und Armutsrisiken frühzeitig adressieren.
- Teilhabe von armutsbetroffenen Kindern und Jugendlichen an Sport, Kultur,
Vereinen und Jugendverbänden erleichtern. Dazu gehören außer kostenfreien
Mitgliedschaften auch kostenlose Nahverkehrstickets über den Schulweg
hinaus, damit Teilhabe an Kultur, Sport, Vereinen und ehrenamtliches
Engagement nicht am Weg scheitert.
4. Gesundheit und Ernährung
- gesunde und vollumfängliche Ernährung für alle Kinder und Jugendlichen
durch den Ausbau der Mittel für den Härtefallfonds „Alle Kinder essen mit“
sicherstellen. Mit der in 2022 gestarteten Förderung wurde im Schuljahr
2022/2023 insgesamt 920[8] Kindern die Teilnahme am Mittagessen in Schulen
und Kindertagesstätten ermöglichen. Armutsbetroffene Familien können sich
oft gesunde und frische Lebensmittel nicht leisten. Allen Kinder und
Jugendlichen muss durch die politischen Rahmenbedingungen eine gesunde und
vollumfängliche Ernährung gewährleistet werden. [9] Gleichzeitig kommen
Kinder in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit und in Angebote der
Jugendverbandsarbeit und fragen nach Essen, da sie ohne Mittagessen,
manchmal sogar ohne Frühstück aus der Schule kommen.[10]
- Kostenlose Sportangebote und Angebote zur Gesundheitsförderung in
erreichbarer Nähe fördern. Für ein gesundes Aufwachsen brauchen Kinder und
Jugendliche Bewegung.
5. Chancen der Jugendverbandsarbeit
- Ehrenamt für alle ermöglichen. Im Selbstverständnis der Jugendverbände ist
ehrenamtliches Engagement von Jugendlichen für Jugendliche bis heute ein
konstitutives Merkmal. Im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen
Bereichen engagieren sich besonders viele junge Menschen in der Kinder-
und Jugendarbeit. Trotzdem wirkt (drohende) Armut als Hemmfaktor für die
Ausübung eines Ehrenamts: So lassen sich starke Zusammenhänge zwischen
finanziellen Ressourcen einer Bevölkerungsgruppe und ihrer Engagementquote
feststellen.Auch Kinder und Jugendliche, die nicht aus einkommensstarken
Familien kommen, müssen die Möglichkeit haben sich zu engagieren – ob in
Jugendverbänden oder anderswo. Materielle Hürden müssen abgebaut werden:
Ehrenamt muss Berücksichtigung finden bei der Berechnung von Bafög-
Laufzeiten und dem Sammeln von Rentenpunkten. Darüber hinaus fordern wir
ein kostenloses Deutschlandticket für Kinder und Jugendliche.[11]
6. Generationsübergreifende Kooperationen forcieren und Bündnisse schließen
- breit gefächerte Bündnisse sind wichtig für den Einsatz gegen Kinderarmut
und für Kinderrechte. Alle gesellschaftlichen Akteur*innen sind
aufgerufen, generationsübergreifend Solidarität zu zeigen und Bündnisse
einzugehen.
[1] Die Studie „Wie geht es den Menschen im Bürgergeldbezug?“ von Sanktionsfrei
aus 2025 hat 1.014 Befragte erhoben, die Bürgergeld beziehen. sanktionsfrei.de
[10] Umfrage unter Evangelischen Offenen Türen (ELAGOT) in 2025
[11] Deutsche Jugend 9/25 Seite 326, (Simonson u. a. 2021, S. 75 f)
